Geschichte einer grenzübergreifenden Freundschaft von 1989 bis 2024
Erzählt hat die Geschichte im September 2024 Friedhelm Schneider aus Hermannsfeld, Gemeinde Rhönblick. Anschließend hat sie Angelika Hoyer, ebenfalls aus Hermannsfeld, bearbeitet.
Grenzöffnung 1989/90
Genau 14.663 Tage bestand die DDR, vom 7. Oktober 1949 bis zum 9. November 1989. Das waren fast 40 Jahre. Die Grenze hat über 4 Jahrzehnte Familien und Freunde getrennt. Menschen kamen zu Tode, weil sie die Grenze in die Freiheit überwinden wollten. Die Bürger der DDR waren regelrecht eingesperrt. Und vieles mehr gäbe es noch von diesem Schandmal der deutschen Geschichte zu berichten.
An jenem 9. November 1989 geschah jedoch das Unvorstellbare. Eine Reihe von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR und die unzähligen mutigen friedlichen Demonstranten in den Städten der Republik begehrten unter der Losung „Wir sind ein Volk“ auf. Mit der Kerze in der Hand, aus den Kirchen kommend weiter auf die Straßen und Plätze, geschah das undenkbare. Die Grenze öffnete sich. Das politische System zerbrach.
Natürlich nutzten auch nach dem 9. November 1989 zahllose Bürgerinnen und Bürger aus den Landkreisen Meiningen und Rhön-Grabfeld die Möglichkeit, die Menschen jenseits der Grenze zu besuchen. Es herrschte unglaubliche Freude unter den Menschen. Es kam zu unbeschreiblichen Szenen der Begegnung in den Straßen der grenznahen Ortschaften, vor allem auf westlicher Seite. Die Entfremdung zwischen Ost und West war nichts zu spüren. Am Wochenende des 11./12. Novembers 1989 kam es zu einer regelrechten Völkerwanderung von Ost nach West. Die Menschen verließen ihre Arbeitsplätze, setzten sich ins Auto und fuhren gen Westen. Die gebräuchlichsten Worte in diesen Tagen waren: „WAHNSINN, WAHNSINN, WAHNSINN!“ Man wollte einfach endlich nur entdecken, wie es über dem Berg (Richtung Eußenhausen-Mellrichstadt) aussieht….
Erste Begegnung zwischen den ehemaligen Grenzgemeinden Hermannsfeld und Völkershausen
Bald bekamen die Bürger der Gemeinde Hermannsfeld die Chance, die Grenze von Ost nach West zu überqueren. Möglich wurde dies, als Grenztruppen der DDR am 10. November 1989 nachts gegen 3 Uhr die Grenzübergangsstelle (GÜST) Henneberg/Eußenhausen öffneten.
Ein feierliches Zusammentreffen zwischen den Bürgern aus den Grenzgemeinden Hermannsfeld (Landkreis Meinigen) und Völkershausen (Landkreis Rhön-Grabfeld) fand am 14. Januar 1990 statt. Dazu machten sich die Hermannsfelder auf, um ihre früheren und nun wiedergewonnen Nachbarn in Völkershausen zu besuchen. Den Besuch hatte der Bürgermeister der Gemeinde Willmars, zu der Völkershausen gehört, genauestens vorbereitet. Gerhard Schätzlein, so war der Name des damaligen Bürgermeisters, war voller Vorfreude auf das Ereignis. Und nichts wollte er dem Zufall überlassen. Alles sollte für die erwarteten Hermannsfelder perfekt vorbereitet sein. Bereits am 3. Januar 1990 verfasste er dazu ein Informationsschreiben an seine Bürger, siehe Anlage 1. Dort stand drin, was wann passiert. Los ging’s schon frühs um 9 Uhr in der Völkershausener St. Michaeliskirche. Dort fand ein gemeinsamer Dankgottesdienst statt. Danach gab es eine große Feier im Kirchenkeller, ein historischer Ort unter der St. Michaeliskirche. Auch an das leibliche Wohl der Feiernden hat Bürgermeister Schätzlein in vorbildlicher Weise gedacht. Er schrieb sorgfältig auf, wer welche Aufgaben bei der Versorgung der Gäste zu erledigen hat. Das Essen plante er sehr großzügig, denn niemand sollte hungrig bleiben. 600 Essensportionen und 1000 Stück Bratwürste sollten es seiner Meinung nach schon sein.
Gemeinsam auf dem Weg
Am frühen Morgen des 14. Januar 1990 machten sich die Hermannsfelder auf den Weg. Ihre innere Freude und die Anspannung waren an jenem Morgen unbeschreiblich. Wer gut zu Fuß war, lief nach Völkershausen. Wer nicht so gut zu Fuß war, auf den wartete ein Fahrdienst aus Völkershausen hinter dem Grenztor.
Die Hermannsfelder liefen in Richtung Völkershäuser Straße, durch den Wald, am noch stehenden Grenzturm, siehe Anlage 2 vorbei bis zum Grenzzaun. Und man mag es kaum glauben, die Wanderer hatten eine musikalische Begleitung dabei. Die Sülzetaler Blasmusikanten marschierten nämlich mit und spielten mit großer Begeisterung allseits bekannte Musikstücke. Die wunderbare Musik ließ auch die große Kälte und den dichten Nebel an diesem Tag vergessen.
Am Grenzzaun angekommen, musste der Zug noch etwas warten. Die Grenzposten der Grenztruppen der DDR bewachten die Grenze ja noch und sie öffneten das Grenztor nur zu ganz festgelegten Zeiten. Aber bald war es soweit und die Menschenmenge überschritt die früher so gefürchtete Grenze, siehe Foto Anlage 3. Für alle war dieser Moment ein überwältigendes Ereignis. Die innere Freude war unbeschreiblich und manch einer mag gedacht haben: „Träume ich oder ist es wahr?“
Die Hermannsfelder kamen nicht mit leeren Händen. Sie hatten für diese besondere Begegnung zwei Transparente im Verein „Kulturbund e. V.“ angefertigt und zur Begegnung mit sich getragen. Außerdem hatten einige Vereinsmitglieder und andere Einwohner aus dem Ort Bier, Sekt, Wein und Naschereien als kleine Überraschungen eingepackt, siehe Foto Anlage 4.
Hinter der Grenze, das Grenztor stand noch offen, begrüßte Bürgermeister Gerhard Schätzlein die Ortsbürgermeisterin Christine Hofmann und alle anderen Gäste aus Hermannsfeld. Die Begrüßung war überaus emotional und herzlich. Alle Anwesenden waren sehr berührt und viele kämpften mit den Tränen.
Nach der Begrüßung legten die Hermannsfelder noch einem kurzen Weg bis nach Völkershausen zurück. Dort traf am sich mit unzähligen Einwohnern der Gemeinde Völkershausen in der St. Michaeliskirche zu einem gemeinsamen Gottesdienst. Die Sülzetaler Blasmusikanten und der Hermannsfelder Kirchenchor untermalten den Gottesdienst mit ihrem Gesang und erhebender Musik. Alles zusammen verlieh dem Gottesdienst eine ganz besondere Atmosphäre. Der Kirchenchor Willmars/Filke trat an diesem Tag noch nicht auf. Dieser Auftritt war dem Gegenbesuch der Völkershausener in Hermannsfeld im Mai 1990 vorbehalten.
Nach dem Kirchenbesuch waren die Menschen sehr ergriffen und aufgewühlt. Das änderte sich auch nicht nach den anschließenden Grußworten und Redebeiträgen. Aber man mag es verstehen, was hier geschah, war eigentlich ein Wunder – mit dem schon niemand mehr gerechnet hatte.
Nach ersten Kontakten gingen alle gemeinsam zum Kirchenkeller und in die eigens ausgeräumte Werkstatt von Horst Baumbach. Dort verbrachten sie einige schöne unvergessliche Stunden. Es gab viel zu erzählen. Alte Geschichten, neue Geschichten, beinahe vergessene Geschichten und bisher noch unerzählte Geschichten.
Erste nähere Kontakte zweier Familien aus Hermannsfeld und Willmars entstehen
Zwischen der Familie Anneliese und Friedhelm Schneider mit Sohn Thomas aus Hermannsfeld und der Familie Gertrud und Rudi Scheidler aus Willmars entstanden an diesem Tag in Völkershausen erste freundschaftliche Kontakte, siehe Anlagen 5 und 6. Diese Freundschaft besteht bis heute.
Aber alle Besucher und Besuchten empfanden große Sympathie füreinander. Man hatte Verständnis füreinander und jeder war froh, dass alles so gekommen ist. Alle Worte hier können die Gefühle der Menschen von damals nur andeuten. Jeder der dabei war, wird sicher diesen Besuch voller aufregender und denkwürdiger Augenblicke zeitlebens nicht vergessen. Die schreckliche und gefürchtete Grenze wurde abgebaut, die Minen gesprengt– sie fand letztendlich ein friedliches und glückliches Happy End ohne Blutvergießen!
Planung gemeinsamer Familienfeiern und Urlaubsreisen
Nach dieser ersten Begegnung in Völkershausen und später in Hermannsfeld entwickelten sich zahlreiche Kontakte und Freundschaften zwischen verschiedenen Familien aus beiden Gemeinden. Beispielsweise haben die Schneiders aus Hermannsfeld und die Scheidlers aus Willmars oft zusammen gefeiert und sind gemeinsam in den Urlaub gefahren. Eine unvergessliche Reise führte beide Familien 1992 nach Kelchsau, ein malerisches Dorf im österreichischen Tirol, siehe Foto Anlage 7.
Eine weitere Freundschaft nahm ihren Anfang, als Familie Hulda und Alfred Recknagel aus Hermannsfeld die Scheidlers aus Willmars zu einem Besuch einluden. Von nun an waren gegenseitige Einladungen an Feiertagen und zu Geburtstagen eine Herzenssache. Es gab immer etwas zu erzählen und gänzlich unvergessen blieb die Geburtstagsfeier von Hulda Recknagel im Jahr 1996, siehe Foto Anlage 8. Aber es wurde nicht nur gemeinsam gefeiert, auch bei notwendigen Arbeiten an Haus und Hof half man sich gegenseitig.
Freude und Dankbarkeit
Beide Familien sind heute überaus dankbar für die Grenzöffnung 1989 und die daraus entstandene Freundschaft. Bereicherte sie doch nach wie vor ihr Leben.
Hermannsfeld am 30. September 2024
Anlagen 1 - 8
Anlage 1
Information des 1. Bürgermeisters der Gemeinde Willmars Gerhard Schätzlein vom 03.01.1990 an die Bürger seiner Gemeinde bezüglich der Vorbereitung des Besuches der Einwohner aus der Nachbargemeinde Hermannsfeld am 14.01.1990
Quelle: Kreisarchiv Schmalkalden-Meiningen, Gemeinde Hermannsfeld nach 1945, Signatur 00195.
Anlage 2
Blick in Richtung Grenzzaun und dem Grenzturm an der Völkershäuser Straße, 1990.
Foto: Hans-Dieter Kauffmann
Quelle: Kreisarchiv Schmalkalden-Meiningen, Fotosammlung Wende, Signatur 0031.
Anlage 3
Geöffnetes Grenztor - Besuch Hermannsfelder Bürger in Völkershausen am 14.01.1990
Foto: Berthold Braun
Quelle: Kreisarchiv Schmalkalden-Meiningen, Fränkisches Freilandmuseum Fladungen, Signatur FS-FFF-…
Anlage 4
Erster Besuch Hermannsfelder Bürger nach der Grenzöffnung in Richtung Völkershausen am 14.01.1990.
Quelle: Kreisarchiv Schmalkalden-Meiningen, Fränkisches Freilandmuseum Fladungen, Signatur FS-FFF-…
Anlage 5
Familie Gertrud und Rudi Scheidler aus Willmars, 1996
Privatarchiv: Friedhelm Schneider
Anlage 6
Familie Anneliese und Friedhelm Schneider aus Hermannsfeld, 1996.
Privatarchiv: Friedhelm Schneider
Anlage 7
Gemeinsame Urlausreise der Familie Schneider und Scheidler nach Bayern, 1992.
Privatarchiv: Friedhelm Schneider
Anlage 8
Geburtstagsfeier Hulda Recknagel in Hermannsfeld, 1996.
Privatarchiv: Friedhelm Schneider