Bevor ich aus der damaligen Zeit berichte, muss erwähnt werden, dass ich aus Stedtlingen stamme und Jahrgang 1942 bin. Meine Eltern hatten einen landwirtschaflichen Betrieb von 15 Hektar an Wiesen und Äckern. Um diesen Betrieb wirtschaftlich zu führen und die Familie zu ernähren, war unser Vater im Sommer und im Winter mit seinen Pferden im Wald mit Holzrücken beschäftigt, denn das Einkommen von den landwirtschaftlichen Produkten, die als Pflichtablieferung erbracht werden mussten, waren gering.
Dorthin nahm er uns als Kinder oft mit, wobei wir ihn mit einem Pferd beim Holzrücken unterstützten. Daher meine Erlebnisse als Kind mit etwa acht Jahren.
Doch nun zu den eigentlichen Kindheitserlebnissen:
Bratheringe
In der Zeit der sowjetisch besetzten Zone (also vor Gründung der DDR) ging mein Vater, wie viele andere auch, über die Grenze um Lebensmittel einzukaufen oder zu tauschen nach Mellrichstadt. Davon durften wir als Kinder nichts wissen, da es verboten war, aber wenn am anderen Morgen eine Büchse Bratheringe auf dem Tisch stand,wussten wir wo er war.
Wasserlieferung
Als die Russen noch die Grenze bewachten, waren sie an der Waldspitze Willmarser Straße Abzweig Ruppers in einer Blockhütte untergebracht. Da sie dort kein Wasser hatten, wurden die Bauern verpflichtet sie mit Wasser zu versorgen. So kam es, dass, als wir am Abendbrottisch saßen, es plötzlich an der Türe klopfte und ein Russischer Offizier eintrat und meinen Vater beauftragte, in gebrochenem Deutsch, dass er morgen Wasser zu fahren hat. Als dies mein Vater verneinte mit der Begründung, er habe keine Zeit, zog er plötzlich seine Pistole um seiner Forderung entsprechend Nachdruck zu verleihen und mein Vater musste Zeit haben.
Bei den Wasserlieferungen war ich auch öfters dabei und kann mich erinnern, dass keine Zivilkleidung auf dem Wagen liegen durfte, da diese von den Soldaten gestohlen wurde und sie dann damit in Zivil Richtung Willmars über die Grenze gingen.
Russische Schickanen
Von meinem Vater stammt die folgende Geschichte: Als er mit seinem Schwager Edmund Wißler im Winter im Wald war, hatten sie ihre Sachen zusammengepackt und wollten Feierabend machen, als plötzlich russische Soldaten kamen und die Passierscheine kontrollierten, die auf der Vorderseite abgelaufen, jedoch auf der Rückseite verlängert waren.
Sie konnten die Russen nicht davon überzeugen die Scheine umzudrehen und mussten daraufhin mit dem Pferdegespann über Schmerbach nach Helmershausen zur übergeordneten Stelle fahren.
Dort wurde ihnen die Genehmigung bestätigt und sie waren spät in der Nacht wieder zu Hause.
Holz für den Bäcker aus Willmars
Eine weitere Erzählung ging in Stedtlingen um, dass einem Bauern aus Willmars die Pferde von den Russen weggenommen wurden.
Nach der Wende im Jahr 2002 habe ich in Willmars bei Helmut Landgraf geschlachtet. So im Gespräch sagte ich zu ihm, dass man in Stedtlingen erzählt, die Russen hätten jemand aus Willmars die Pferde abgenommen, worauf er antwortete: „Ja, das war mein Vater!“
Bei einem späteren Gespräch mit Horst Rothaupt aus Willmars wurde mir bestätigt, dass der Bäcker aus Willmars kein Holz mehr zum Feuern hatte. Daraufhin hatten sich Bauern auf den Weg gemacht um nach Holz Ausschau zu halten und gingen Richtung Grenze, verhandelten mit den russischen Grenzposten um Holz zu holen. Alles Karascho in Ordnung.
Als sie am nächsten Tag ankamen waren andere Posten da und haben ihnen das gesamte Gespann abgenommen und unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt.
Holz für den Dorflehrer in Völkershausen
Nach der Gründung der DDR 1949 wurde die Grenze gezogen, also 1950 dementsprechend Holz eingeschlagen um den sogenannten Zehnmeterschutzstreifen anzulegen. Die Grenzbewachung durch die russische Armee wurde zurückgefahren und durch die damalige kasarnierte Grenzpolizei übernommen.
Hierzu kann ich berichten, dass Leute aus Frankenheim Holz an der Straße von Ruppers nach Völkershäuser eingeschlagen haben und ich mit meinem Vater dort das Holz gerückt habe.
Plötzlich kam ein Mann, soweit mir bekannt ist ein Lehrer (laut Erkundigung in Völkerhausen handelte es sich vermutlich um den damaligen Ortslehrer Herrn Nierhaus mit seinem Sohn), mit einem Handwagen und einem Kind etwa 6 Jahre alt um Holz zu holen.
Wie die Frankenheimer halt so sind: „Holz brochste, geh hai on hol än Koste Bier, do forn me Dir en ganze Hänger voll nü.“
(Holz brauchst du, geh Heim und hol einen Kasten Bier, dann fahren wir Dir einen ganzen Hänger voll rüber.)
Den Hänger haben die Arbeiter beladen, aber wann der Kasten Bier kam kann ich nicht berichten, denn er hatte eine Wegstrecke von ca. zwei Kilometer zurückzulegen und solange waren wir dort nicht beschäftigt.
Verbotener Kontakt mit den Zöllnern
So erinnere ich mich (1951), dass unser Nachbar Hubert Behlert, der Sohn von Schmiedemeister Adolf Behlert, mit meinem Vater abgesprochen hatte, dass er nach Filke will, wo seine Mutter herstammt, um Lebensmittel zu holen. Alles war klar, wir Kinder mussten mit, hatten ein Pferd und zogen Holz aus dem Wald. Der Befehl unseres Vaters hieß: „Wenn der Hubert kommt, lasst ihr das Pferd einfach stehen und lauft weg.“
Gesagt – getan, Hubert kam von Filke zurück, hatte seinen Rucksack versteckt und arbeitete mit dem Pferd weiter, als ob nichts geschehen wäre.
Wir Kinder hatten nun Langeweile und gingen auf die Willmarser Straße. Dort sahen wir einen Zöllner am Schlagbaum stehen. Mein Bruder, der 2 Jahre älter ist als ich, sagte: „Komm wir gehen mal runter vielleicht hat er Schokolade.“
Schokolade hatte er nicht fragte uns aber wie viele Grenzer auf der Kompanie wären wovon wir absolut keine Ahnung hatten.
Bei dieser Gelegenheit sah ich vor dem Schlagbaum (also DDR Gebiet) ein großes blaues Schild mit weißer Schrift
DEUTSCHE AN EINEN TISCH
Während wir uns mit dem Zöllner unterhielten kamen aus Richtung Schmerbach zwei Grenzer. Wir flüchteten zum Vater um Schutz zu suchen. Die Grenzer kamen und gaben unserem Vater zu verstehen, dass wir Kinder, da wir mit einem Zöllner gesprochen hätten mit auf die Grenzkompanie müssten. Unser Vater natürlich voller Zorn: „Solange das Schild da unten an der Grenze steht „DEUTSCHE AN EINEN TISCH“ bleiben die Kinder da und gehen nirgendwohin mit.
Die Familie Behlert wurde 1952 ausgesiedelt, aber nicht wegen den Grenzgängen von Hubert, sondern weil eine andere Familie mehr Beziehung zu den örtlichen Organen hatte.
Jagdtrophäe
Es gab auch andere Erlebnisse, wie das von Hubert Frölich aus Herpf der1957 bis 1958 in Stedtlingen seinen Grenzdienst geleistet hat und mir folgendes berichtete:
Er ist mit einem Posten den Zehnmeterstreifen abgelaufen. Als sie, wie bereits schon erwähnt, an der Völkerhäuser Straße ankamen, stand ein Förster und bat sie, er habe einem Hirsch geschossen der aber über die Grenze zur DDR gelaufen ist und dort liegen geblieben ist und sie möchten ihn doch bitte wenigstens die Trophäe übergeben.
Da Hubert einen zuverlässigen Begleiter dabei hatte, forderte er den Förster auf er solle mit anpacken und den Hirsch auf westliches Gebiet ziehen.
Nach getaner Arbeit wurden die Spuren wieder verwischt und die Patrouille wurde fortgeführt.
Friedenspfeife mit tödlichem Ausgang
Über eine andere Begebenheit kann ich nur aus Erzählungen berichten: dabei haben sich Zöllner und Grenzsoldaten getroffen und sogar zusammen mal eine geraucht und sich unterhalten. Dabei kam es wohl zu einem Wortgefecht welches darin endete, dass der Grenzsoldat den Zöllner erschossen hat.
Der Gedenkstein an dieses Ereignis befand sich zwischen zwei Kiefernbäumen auf dem Feld Richtung Willmars linker Hand. Der Stein wurde inzwischen zur Wendeschleife Richtung Grenze versetzt.
Der Vorfall ereignete am 29. Juli 1952 und er handelte sich um den Zollgrenzassistent Gerd Palzer.
Zu welchen Machtspielchen bzw.Drangsalierereien dieses Regime geführt hat, zeigt folgendes Erlebnis.
Der Passierschein
Um in das Grenzgebiet in Stedtlingen fahren zu können, benötigte man einen sogenannten Passierschein. Diese Passierscheine mussten immer zwei Wochen vorher im Gemeindeamt beantragt werden und wurde dann vom Volkspolizeikreisamt in Meiningen entschieden, ob man einreisen durfte z. B. zu den Eltern, oder nicht.
So passierte es das ich mit meiner Frau zu meinen Eltern nach Stedtlingen zur Heuernte wollte, doch der Passierschein war ohne Bergründung abgelehnt. Da ich schon mehrmals zwecks Beschwerde auf diesem Amt war lernte ich da auch verschiedene Personen kennen.
Ich wartete vor dem Zimmer als plötzlich eine mir bekannte Person heraustrat und fragte: „Was machst du denn hier?“ Ich erklärte ihr, dass ich einen Passierschein nach Stedtlingen bräuchte, worauf sie kurz antwortete: „Das ist örtlich!“
Das ist mir egal, ich warte bis ich den Schein habe, es hat lange gedauert, aber ich hatte den Schein und bin mit meiner Frau auf dem Motorrad die Untergasse in Stedtlingen reingefahren.
Als mich der örtliche Polizist gesehen hat, viel ihm sprichwörtlich “der Kinnladen runter“ und ich hatte nie mehr Probleme einen Passierschein zu bekommen.
Meine persöhnliche Erinnerungen sitzen heute noch am 26.09.2024 so tief in mir drinne, als wären sie gestern erst gewesen. Horst Eckers, Herpf